„Schätzungsweise 9.000 Kitas haben in Deutschland im zurückliegenden Jahr in über der Hälfte der Zeit in aufsichtspflichtrelevanter Personalunterdeckung gearbeitet.
Das sind mehr als doppelt so viele Kitas wie ein Jahr zuvor. Übersetzt heißt das: Diese Einrichtungen konnten den Betrieb im Durchschnitt an mehr als jedem zweiten Tag nur unter Gefährdung der Sicherheit der zu betreuenden Kinder aufrechterhalten! Am anderen Ende der Skala waren es nicht einmal 7 Prozent der Kitas, die in den zurückliegenden 12 Monaten mit einer durchgehend ausreichenden Personalausstattung arbeiten konnten. Vor einem Jahr konnten dies zumindest noch annähernd doppelt so viele Einrichtungen. Das sind die Einschätzungen von bundesweit über 4.000 Kitaleitungen und das ist mit Blick auf die enorme Bedeutung des frühkindlichen Bildungsbereichs für die gesamte Bildungsbiografie von Kindern eine Katastrophe“, kommentiert Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), anlässlich der heutigen Veröffentlichung der DKLK-Studie 2022 im Rahmen des Deutschen Kitaleitungskongresses in Düsseldorf.
„Dass 84 Prozent der Kitaleitungen angeben, dass sich der Personalmangel in den vergangenen 12 Monaten nochmals verschärft hat, – ein Jahr zuvor sagten das noch 72 Prozent, – unterstreicht die anhaltend dramatische Entwicklung. Bedenkt man, was das pädagogische Fachpersonal an Kitas in Zeiten einer andauernden Coronapandemie bereits geleistet hat und infolge zusätzlicher Herausforderungen durch die bestmögliche Integration oftmals traumatisierter Kinder aus der Ukraine künftig leisten muss, verstärkt sich der Handlungsdruck massiv. Die Politik muss ohne Wenn und Aber alles tun, was möglich ist, um diesen Zustand jetzt zu verbessern. Ein Verschieben auf Morgen wäre unterlassene Hilfeleistung. Wenn politisch Verantwortliche gegenüber Kitaleitungen sagen ‚Wir wissen, dass Sie es schwer haben, aber wir können leider nichts dagegen tun‘, ist es das Bekenntnis politischen Versagens“, so Beckmann weiter.
Der dramatische Personalmangel an Kitas trifft dabei Fachkräfte und Kinder gleichermaßen. Bei mindestens 57 Prozent (U3-Bereich) und mindestens 74 Prozent (Ü3-Bereich) der Kitaleitungen ist die angegebene tatsächliche Fachkraft-Kind-Relation laut DKLK-Studie 2022 schlechter als wissenschaftlich empfohlen (U3-Bereich: 1:3; Ü3-Bereich: 1:7,5). Im U3-Bereich hat sich das Verhältnis seit 2020 weiter verschlechtert. Ein weiterhin existenter Missstand bei Kitaleitungen: Trotz leichter Verbessrungen geben immer noch 45 Prozent der Befragten an, dass ihre tatsächliche Leitungszeit über der vertraglichen Leitungszeit liegt.
Fokus Gesundheit und Gesundheitsprävention
Das Thema Gesundheit bildet den Schwerpunkt der DKLK-Studie 2022. „Angesichts der enormen Belastungen, denen das Fachpersonal an Kitas gegenübersteht, sind gesundheitserhaltende und -fördernde Maßnahmen umso wichtiger. Vor diesem Hintergrund sind die Ergebnisse der Studie doppelt alarmierend“, erläutert Beckmann. Denn:
- 82 Prozent der Befragten fühlen sich durch ihre Tätigkeit psychisch belastet.
- 87 Prozent der Kitaleitungen betrachten den Verwaltungsaufwand an Kitas als gesundheitsgefährdend.
- Jede vierte Kitaleitung ist in den letzten 12 Monaten zwischen 10 und 20 Tagen zur Arbeit gegangen, obwohl sie sich aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeitsfähig gefühlt hat.
- 93 Prozent der Kitaleitungen stimmen der Aussage zu, dass die hohe Arbeitsbelastung der pädagogischen Fachkräfte zu höheren Fehlzeiten und Krankschreibungen führt.
- 7 von 10 Kitaleitungen geben an, dass es für ihre Kita kein Konzept zum Thema Gesundheit/Gesundheitsprävention für das pädagogische Fachpersonal gibt.
- 94 Prozent der Befragten sagen, ein Angebot zu Gesundheits- und Stressmanagement wäre nützlich, aber nur 14 Prozent haben hierzu Zugang.
„Das, was wir an Kitas nicht erst seit gestern erleben, ist ein sich selbst verstärkender Teufelskreis. Der Personalmangel führt zu zusätzlichen Belastungen bei den Erzieherinnen und Erziehern, die im System sind. Höhere Krankenstände sind zwangsläufig die Folge, wenn Menschen sich über ihre Belastungsgrenze hinaus aufopfern. Das erhöht wiederum zusätzlich die Arbeitsbelastung der verbleibenden Fachkräfte und gefährdet deren Gesundheit zusätzlich. Auf der anderen Seite brauchen Kinder für ihre Entwicklung – gerade in den ersten drei Lebensjahren – eine verlässlich verfügbare Bezugsperson“, so Beckmann.
„Neben der akuten Überlastung der engagierten Fachkräfte an Kitas ist die zu verzeichnende Entwicklung auch ein verheerendes Signal an den dringend benötigten Nachwuchs. Es ist alarmierend, wenn sich gerade jüngere Leitungskräfte in ihrer Tätigkeit nochmals weniger wertschätzt erleben, als es Kitaleitungen ohnehin insgesamt tun. Mehr als 4 von 5 der unter 30-jährigen Kitaleitungen stimmen der folgenden Aussage zu: Das Vorurteil ‚Wir spielen, basteln und betreuen die Kinder nur‘ hält sich hartnäckig in den Köpfen der Gesellschaft. In den kommenden Jahren ist ein großer Teil der Leitungspositionen in Deutschland neu zu besetzen, der Ganztagsanspruch verstärkt den Personalbedarf zusätzlich. Entschiedene Maßnahmen der Politik zur Personalgewinnung und -bindung sind deshalb alternativlos“, folgert Beckmann.
Der VBE fordert:
1. Aufeinander abgestimmte, flächendeckende Investitionen im Rahmen einer bundesweit abgestimmten Fachkräfteoffensive, ergänzt um regional angepasste Maßnahmen. Diese müssen die Ausweitung der Ausbildungskapazitäten an Fach- und Hochschulen, das Angebot adäquater Entwicklungsperspektiven für ausgebildete Fachkräfte und die leichtere Anerkennung europäischer Abschlüsse einbeziehen. Die Ausbildung im frühpädagogischen Bereich darf dabei qualitativ nicht ausgedünnt werden.
2. Unmittelbare Maßnahmen zur Beseitigung aufsichtspflichtrelevanter Personalunterdeckungen.
3. Nachhaltige Investitionen in eine wahrnehmbare Verbesserung der Arbeitsbedingungen auf mehreren Ebenen, vor allem bei Personalausstattung, Bezahlung, Einführung einer grundsätzlich vergüteten Ausbildung, Fort- und Weiterbildungen sowie räumlicher und sächlicher Ausstattung, um die Attraktivität des Berufsbildes dauerhaft zu stärken. Vor dem Hintergrund dieser zwingend notwendigen Anpassungen ist die Verweigerungshaltung der kommunalen Arbeitgeber in den aktuellen Tarifverhandlungen für den Sozial- und Erziehungsdienst indiskutabel und ein verheerendes Signal.
4. Eine Anpassung der vertraglich fixierten Leitungszeit an den tatsächlichen Bedarf.
5. Eine Entlastung von Kitaleitungen bei Verwaltungsaufgaben durch eine Verbesserung der digitalen Infrastruktur.
6. Den unterstützenden Aufbau multiprofessioneller Teams (Therapeut:innen, Psycholog:innen, med. Fachpersonal, Sozialpädagog:innen), um Inklusion, Integration, Partizipation und insgesamt immer höhere Anforderungen an das System Kita bewältigen zu können. Zur Entlastung bei nicht-pädagogischen Ausgaben sind zudem Verwaltungs- und Hauswirtschaftskräfte einzubeziehen.
7. Systematischer Aufbau und Zugang zu Angeboten der Gesundheitsprävention und -förderung.