Der Lehrkräftemangel ist allerorten spürbar. Heute legte die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz (KMK) Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel vor. Der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung, Gerhard Brand, kommentiert:
„Das ist ein Offenbarungseid der Bildungspolitik. Allen, die mit in der Hoffnung auf Besserung seit Monaten und Jahren bis an die Grenzen der Belastbarkeit und darüber hinaus arbeiten, wird jede Vision geraubt. Es wird nicht besser, es wird nur immer schlimmer. Größere Klassen, mehr unterrichten, länger unterrichten, an andere Orte abgeordnet werden: So stellt sich die KMK die Lösung des Lehrkräftemangels vor. Mit diesen Maßnahmen wird das Versagen der Politik auf dem Rücken der Lehrkräfte ausgetragen. Dem erteilen wir eine klare Absage!“
Die SWK legt zwar auch Maßnahmen zur Entlastung vor, aber Brand äußert sich sehr skeptisch, inwieweit diese umgesetzt werden: „Es ist ja nicht so, als wäre die SWK die erste Institution, welche Verwaltungsfachkräfte für Schulen fordert. Mit unseren repräsentativen Schulleitungsbefragungen zeigen wir seit 2018, dass drei Viertel der Schulleitungen sich zusätzliches Personal zum Beispiel im Schulsekretariat wünscht. In der aktuellen Umfrage aus dem November 2022 geben 97 Prozent der Schulleitungen an, unter den steigenden Verwaltungsarbeiten zu leiden. Das sind keine neuen Erkenntnisse! Wenn das gewollt werden würden, gäbe es hier längst Abhilfe. Wir werden das SWK-Gutachten nicht wohlwollend betrachten, denn wir wissen, wie es in der Realität laufen wird: Die Belastungen für Lehrkräfte werden hingenommen, die Entlastungen können nicht umgesetzt werden. Statt das Berufsfeld endlich attraktiver zu gestalten, werden die Bedingungen zuungunsten der Beschäftigten verändert.“
Besonders kritisch sieht der VBE Bundesvorsitzende die Vorschläge, die in die individuelle Entscheidungsfreiheit der Lehrkräfte eingreifen: „Wenn die Hürden, um in Teilzeit arbeiten zu können, deutlich erhöht werden, zeigt sich die absolute Hilflosigkeit der Institutionen. Auch außerhalb von Phasen, in denen man Angehörige pflegt oder selbst aufgrund von Krankheit nicht voll leistungsfähig ist, gibt es genügend Gründe, nicht mit vollem Stundendeputat zu arbeiten. Allem voran, und das möchten die Kultusministerien nicht gerne hören, ist es die enorme Arbeitsbelastung, welche dazu führt, nicht in Vollzeit arbeiten gehen zu können. Werden Menschen nun dazu gezwungen, müssen wir damit rechnen, dass wir aufgrund von Überforderung in eine beispiellose Krankheitswelle steuern werden, die den Zustand nur verschlimmern wird.“
Es werden von der SWK auch Maßnahmen zur Gesundheitsförderung vorgeschlagen, was durchaus löblich sei, so Brand, aber: „Das könnte alles schon längst etabliert sein, wenn es der Politik ernst sein würde. Unsere repräsentative Schulleitungsbefragung aus dem Januar 2022 zeigte, dass die Hälfte der Schulleitungen angibt, dass die Zahl der Kolleginnen und Kollegen, die langfristig aufgrund physischer Erkrankungen ausfallen, zugenommen hat. 2019 sagte das ein Drittel. 60 Prozent der Schulleitungen gaben an, dass die Kultusministerien nicht ausreichend Möglichkeit zur Gesundhaltung der Lehrkräfte anbieten. Viele Lehrkräfte können schon lange keine Fortbildung mehr wahrnehmen. Zu sehr werden sie an der Schule gebraucht, zu groß das Loch, welches durch ein Fehlen der Lehrkraft entsteht. Und diesen Kollegien sollen wir jetzt sagen, dass sie mehr arbeiten sollen?!“
Nicht zuletzt zeigt sich Brand erstaunt über die Ambivalenz in den Empfehlungen: „Einerseits wird die Rolle der Lehrkraft betont, auf der anderen Seite sollen größere Klassen möglich, die Selbstlernzeiten erhöht und Formen des Hybridunterrichts eingesetzt werden. Wie im Gutachten herausgestellt wird, sind dies sehr anspruchsvolle Lernsettings. Den größten Lehrkräftemangel haben wir in Grundschulen und in Schulen in herausfordernden sozialen Lagen. Es ist ein Irrglaube, die Beziehungsebene zur Lehrkraft durch eine Videoleinwand ersetzen zu können. Es ist ebenso ein Irrglaube zu denken, dass Schülerinnen und Schüler ohne Anwesenheit der Lehrkraft brav auf ihren Stühlen sitzen und auf Beschulung warten. Das ist eine Vorstellung aus dem Märchenland der Bildungsromantik.“
Brands Fazit zu den Maßnahmen: „Die Politik muss sich entscheiden: Soll der Lehrkräftemangel ernsthaft angegangen werden? Dann braucht es eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen, die Möglichkeit, an Fortbildungen teilzunehmen und eine spürbare Entlastung von Verwaltungsaufgaben. Oder die Politik setzt weiter auf das Kaschieren ihrer Fehlleistungen, indem die sowieso schon am Limit gehenden Kollegien jetzt auch noch mehr und länger arbeiten gehen sollen. Das wird wie ein Katalysator für eine weitere Verschlechterung der Personaldecke sorgen.“
Kontext:
Der VBE gibt zu verschiedenen Themen repräsentativen Meinungsumfragen heraus. Die Schulleitungsbefragungen finden Sie unter: https://www.vbe.de/service/meinungsumfragen