„Hochgerechnet etwa 10.000 Kitas haben im letzten Jahr in Deutschland in mehr als der Hälfte der Zeit in aufsichtspflichtrelevanter Personalunterdeckung gearbeitet. Das sind zweieinhalbmal so viele wie noch 2021 und 1.000 mehr als 2022.
Anders ausgedrückt: Diese Kitas konnten den Betrieb im Durchschnitt an mehr als jedem zweiten Tag nur unter Gefährdung der Sicherheit der zu betreuenden Kinder aufrechterhalten. Mehr als 7 von 10 Kitaleitungen sagen: Der Personalmangel hat negative Auswirkungen auf den im Sozialgesetzbuch VIII § 22 festgeschriebenen Kernauftrag von Kita, die ‚Förderung der Entwicklung des Kindes zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit durch die pädagogische Arbeit in Kitas‘. Das sind erschreckende Ergebnisse, die deutlich machen, dass die Politik ihrer gesetzlichen Verantwortung nicht gerecht wird. Sie sind ein eindringlicher Hilferuf und die Verpflichtung zum Handeln“, kommentiert Tomi Neckov, stellvertretender Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), anlässlich der heutigen Veröffentlichung der DKLK-Studie 2023 mit dem Schwerpunkt „Personalmangel in Kitas“ im Rahmen des Deutschen Kitaleitungskongresses in Düsseldorf.
Fast 95 Prozent der Kitaleitungen geben laut DKLK-Studie 2023 an, dass sich der Personalmangel in den vergangenen 12 Monaten verschärft hat, es schwieriger geworden ist, passendes Personal zu gewinnen, oder Personal eingestellt wurde, welches vor Jahren wegen mangelnder Passgenauigkeit nicht eingestellt worden wäre. Die Auswirkungen des Personalmangels sind in vielfacher Hinsicht dramatisch:
Fast 9 von 10 Kitaleitungen geben negative Auswirkungen des Personalmangels auf die pädagogische Qualität an.
Fast 9 von 10 Kitaleitungen sagen, dass pädagogische Angebote in den letzten 12 Monaten entfallen mussten.
Fast alle Kitaleitungen sagen, dass die hohe Arbeitsbelastung der pädagogischen Fachkräfte zu höheren Fehlzeiten und Krankschreibungen führt.
Mehr als 8 von 10 Kitaleitungen geben an, dass Mitarbeitende unzufrieden mit der pädagogischen Arbeit sind und sich der Personalmangel negativ auf die Freude an der Arbeit auswirkt.
Ein Viertel der Kitaleitungen gibt Kündigungen von Mitarbeitenden als Konsequenz des Personalmangels in den letzten zwölf Monaten an.
Bei 64 % (U3-Bereich) und 78 % (Ü3-Bereich) der Kitaleitungen ist die angegebene tatsächliche Fachkraft-Kind-Relation schlechter als wissenschaftlich empfohlen (U3-Bereich: 1:3, Ü3-Bereich: 1:7,5), jeweils eine nochmalige Verschlechterung gegenüber 2022.
„Das frühkindliche Bildungssystem weiter auf dem Rücken der Kinder und der Beschäftigten auszuhöhlen, wäre katastrophal. Die DKLK-Studie liefert bedrückende Ergebnisse in Bezug auf die Gesundheit und Zufriedenheit der Erzieherinnen und Erzieher. Die wahrgenommene Wertschätzung durch die Politik hat nochmals abgenommen. Das offenbart die Negativspirale, in der wir uns befinden. Wir können uns glücklich schätzen, dass 8 von 10 Kitaleitungen ihre Leitungstätigkeit laut Studie – nichtsdestotrotz – gerne ausüben. Es ist, – vor dem Hintergrund der massiven Herausforderungen nochmals mehr, – wichtig und erfreulich, dass Kitaleitungen von allen anderen Akteurinnen und Akteuren außerhalb der Politik eine sehr hohe Wertschätzung erfahren. Von Kindern, Mitarbeitenden, Trägern, Fachberatung und Eltern. Das stärkt das System von innen. Das dürfen wir aber nicht weiter aufs Spiel setzen. Die frühkindliche Bildung braucht, hier gibt es keine zwei Lesarten, massive Investitionen – jetzt und dauerhaft“, so der stellvertretende Bundesvorsitzende.
„Die größten Potenziale der aus Sicht der Kitaleitungen als nützlich bewerteten, aber noch nicht ergriffenen Maßnahmen zum Umgang mit Personalmangel, zeigen sich bei dem Einsatz von bereits im Ruhestand befindlichen Personals und der Aufstockung von Teilzeitkräften. Aber hier haben wir das Ende der Fahnenstange vielerorts schon erreicht! Nicht alles, was theoretisch machbar ist, sollte auch praktisch umgesetzt werden – zumal es viele pädagogische Fachkräfte gibt, die aufgrund der enormen Belastung und der Vereinbarkeit von Beruf und Familien freiwillig in Teilzeit arbeiten, weil sie sonst an oder über ihre psychischen und physischen Grenzen kämen“, so Neckov. Weiterhin gibt es Potenzial für die Gewinnung von Betreuungszeit aller Kinder, wenn die individuelle Betreuungszeit eingeschränkt wird. „Dies ist jedoch kontraproduktiv für das große Ziel, in einer inklusiven und integrativen Gesellschaft zu leben“, so Neckov.
Danach gefragt, welche Maßnahmen in der eigenen Einrichtung zur Personalgewinnung und -sicherung ergriffen werden, benennen die meisten Kitaleitungen (53 Prozent) das Angebot praxisintegrierter Ausbildung. „Fast 9 von 10 Kitaleitungen bewerten diese Maßnahme als nützlich, etwa, weil sie sich hiervon eine längerfristige Bindung der Auszubildenen versprechen. Das ist ein Erfolg“, so Neckov. Die größten Potenziale der als nützlich bewerteten, aber noch nicht ergriffenen Maßnahmen zur Personalsicherung und -gewinnung werden laut Kitaleitungen in einer besseren Bezahlung der Mitarbeitenden, der Schaffung neuer Stellen und der Entwicklung und Förderung der individuellen beruflichen Perspektive gesehen.
Florence Fischer, CSO und Mitglied der Geschäftsleitung FLEET Education Events GmbH, die die DKLK-Studie in Kooperation mit dem VBE durchführen, ergänzt mit Blick auf die Ergebnisse der Studie: „Ich glaube wir sind uns alle einig, dass niemand mehr bestreiten kann, dass die Qualität des frühkindlichen Bereichs unmittelbaren Einfluss auf die weitere Bildungsbiografie von Kindern hat. Umso wichtiger ist es doch, dass dem Personal in den Kitas und hier auch insbesondere den Kitaleitungen genügend Zeitressourcen eingeräumt werden, um sich umfassend fortbilden zu können. Wie sonst sollen sie ihrem Bildungsauftrag gerecht werden können? Es ist vor diesem Hintergrund mehr als bedenklich, dass jede vierte Kitaleitung von denjenigen, die keine vertragliche Leitungszeit zugesichert bekommen haben, keinen Tag in Fortbildung investieren konnte. Ich sage bewusst konnte, weil ganz klar ist, dass bereits der reguläre Leitungsalltag, insbesondere wenn man vertraglich keine Leitungszeit eingeräumt bekommt, nur zu bewältigen ist, wenn man sich selbst ausbeutet und ständig über die reguläre Wochenarbeitszeit hinausgeht, um die Kita am Laufen zu halten. Da ist dann keine Luft mehr für die Teilnahme an Fortbildung. Hier klafft erneut der gesellschaftliche Anspruch an die Bildungseinrichtung Kita und das dort beschäftigte Personal und das, was in der Realität trotz allem Engagement geleistet werden kann, weit auseinander. Und diese Schere wird sich weiter öffnen, wenn die Politik es nicht endlich schafft, den Kitas die Rahmenbedingungen zu geben und dazu gehört auch genügend Zeit für Fortbildung, die sie zur Erfüllung ihres Bildungsauftrags benötigen.
Neckov abschließend: „In den kommenden Jahren wird ein großer Teil der Leitungspositionen in Deutschland neu zu besetzen sein, der Ganztagsanspruch verstärkt den Personalbedarf zusätzlich, von der Wirkung aktueller Missstände auf den dringend benötigten Nachwuchs ganz zu schweigen. Es besteht akuter Handlungsbedarf.“
Der VBE fordert:
Das KiTa-Qualitätsgesetz muss mit angemessenen finanziellen Ressourcen unterlegt sein. Aufgrund der massiven Finanzierungslücke im frühkindlichen Bereich ist es notwendig, dass der Bund in deutlich größerem Umfang und dauerhaft in das Kita-System finanziert und dies als nationale Aufgabe versteht.
Eine verlässliche, aufeinander abgestimmte Finanzierungsgemeinschaft aus Bund, Ländern, Kommunen und Trägern, in deren Zentrum flächendeckende Investitionen im Rahmen einer bundesweit abgestimmten Fachkräfteoffensive stehen, ergänzt um regional angepasste Maßnahmen. Diese müssen die Ausweitung der Ausbildungskapazitäten an Fach- und Hochschulen, das Angebot adäquater Entwicklungsperspektiven für ausgebildete Fachkräfte und die leichtere Anerkennung ausländischer Abschlüsse einbeziehen. Die Ausbildung im frühpädagogischen Bereich darf dabei qualitativ nicht ausgedünnt werden, Abbruchquoten müssen minimiert werden.
Unmittelbare Maßnahmen zur Beseitigung aufsichtspflichtrelevanter Personalunterdeckungen.
Nachhaltige Investitionen in eine wahrnehmbare Verbesserung der Arbeitsbedingungen auf mehreren Ebenen, vor allem bei Personalausstattung, Bezahlung, einer grundsätzlich und angemessen vergüteten Ausbildung, Fort- und Weiterbildungen sowie räumlicher und sächlicher Ausstattung, um die Attraktivität des Berufsbildes dauerhaft zu stärken.
Eine Anpassung der vertraglich fixierten Leitungszeit an den tatsächlichen Bedarf.
Den unterstützenden Auf- und Ausbau multiprofessioneller Teams (Therapeutinnen und Therapeuten, Psychologinnen und Psychologen, medizinisches Fachpersonal, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, Fachkräfte im Bereich der Sprachförderung), um Inklusion, Integration, Partizipation und insgesamt immer höhere Anforderungen an das System Kita bewältigen zu können. Zur Entlastung bei nicht-pädagogischen Ausgaben sind zudem Verwaltungs- und Hauswirtschaftskräfte einzubeziehen.
Eine Entlastung von Kitaleitungen bei Verwaltungsaufgaben.
Systematischer Aufbau und Zugang zu Angeboten der Gesundheitsprävention und -förderung.